Die Oberstufe der Deutschen Botschaftsschule Peking hat wieder einmal zum „Beijing Talk“ geladen. Im vergangenen Herbst hatten sie Kai Strittmatter, den in Peking lebenden Sinologen und Kolumnisten der Süddeutschen Zeitung (Sack Reis) eingeladen. Ein Abend, den ich nicht vergessen werde.
Heute freue ich mich auf ein Interview mit dem bekannten und internatinal ausgezeichneten chinesischen Filmemacher Lou Ye (娄烨), dessen Sohn die Schule besucht. Ich kenne weder den Regisseur, noch seine Filme; aber ein Kollege, der leider heute nicht dabei sein kann, sagte mir, es sei sein chinesischer Lieblingsregisseur; er hätte alle Filme gesehen, auch die in China verbotenen.
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Der „Beijing Talk“ wird von der Oberstufe, diesmal der 11. Klasse, organisiert und moderiert. Nach einer kurzen Begrüßung durch die Schulleiterin beginnt das Moderatorenpaar mit ihren Fragen an Lou Ye, gedolmetscht von der Ehefrau des Regisseurs. Nach seiner Ausbildung befragt, gesteht er, dass er eher zufällig zur Regie gekommen ist: 1965 in Shanghai geboren, bewirbt er sich Mitte der 1980er-Jahre an der Akademie in Peking – die klassische Kunst im Blick.
Seine Mutter meinte, es wäre doch schlau, wenn er schon in der Hauptstadt sei, sich gleich für ein weiteres Fach zu bewerben. Zu diesem Zeitpunkt wurden allerdings nur noch Aufnahmeprüfungen für Filmregie angeboten. Ihn reizte die Vorstellung, alle Filme sehen zu können, die in China für die Öffentlichkeit unzugänglich, oder gar verboten waren. Vor allem auch ausländische Filme der Nouvelle Vague und des Neuen Deutschen Kinos, von Autoren wie Fassbinder, Wenders, Schlöndorff und Herzog. Also gab es statt der Schönen Künste eine handfeste Regieausbildung. Das Studium führte ihn dann auch ins Ausland, nach Paris und Berlin.
An seinem Beruf schätzt er die Vielseitigkeit der Arbeit: als Autor schreibt der nicht nur die Drehbücher und macht den Schnitt, sondern leistet am Set auch harte körperliche Arbeit. Der Wechsel zwischen dem in Ruhe und allein zu arbeiten und dann wieder mitten im Produktionsgetümmel zusammen mit anderen, das erfüllt ihn. Seine Frau versteht und unterstützt ihn nach Kräften, wohl auch weil sie selber Filmemacherin ist und an vielen seiner Produktionen mitwirkt.
Die deutsche Sprache hat sie während des gemeinsamen Aufenthalts in Berlin gelernt, wo auch der Sohn geboren wurde. In Peking besuchte er zunächst die ersten vier Schuljahre eine chinesische Grundschule um dann zur Deutschen Botschaftsschule zu wechseln.
Lou Ye weiß zwar die Vorzüge des chinesischen Bildungssystems zu schätzen; die Eltern haben für den Sohn jedoch eine offenere und freiere Ausbildung der chinesischen vorgezogen.
Bevor es in die Pause geht, wird noch ein kurzer Zusammenschnitt von Making-Of Szenen am Set gezeigt. Der Regisseur sagt, es mache ihm Albträume jetzt dabei zu zuschauen, es sei anstrengend und gefährlich gewesen. Nach der Pause wird zunächst ein Werk-Trailer gezeigt, der aus ultrakurzen Sequenzen aller seiner bisherigen neun Filme zusammengeschnitten ist. Die Bilder sprechen für sich, dem Duktus nach könnten Sie aus einem einzigen Film kommen. Ich beginne zu bedauern, bisher noch keinen seiner Filme gesehen zu haben. Zum Glück warten jetzt neun Filme auf mich, ein zehnter ist gerade in Produktion!
Der zweite Teil des Abends gilt Fragen zur chinesischen Filmzensur. Meine Kollegin, eine der ganz wenigen anwesenden Chinesen im Publikum, meint, dass alle Fragen so typisch deutsch seien. Ich frage sie: „Deutsch, im Sinne von; ich stelle so lange Fragen, bis ich die erwartete Antwort bekomme?“. Sie lacht und nickt: „Stimmt, Chinesen sind eher gewohnt offen zu fragen und offen zu antworten.“ Sie erwarten kein „Ja“ und kein „Nein“, sondern eher ein „Vielleicht“ oder ein „Sowohl Alsauch“ als Antwort zu bekommen.
Auch bei Lou Ye muss man die Antworten zwischen den Zeilen suchen. So sehr er die Zensur für die chinesischen Kulturschaffenden als riesige Bürde empfindet, so sehr versucht er auch Verständnis für die Motive zu haben, die hinter dem Zensursystem stehen: Es geht um die Erhaltung von Harmonie und Ordnung des großen Ganzen. Dabei lässt er jedoch durchscheinen, dass das System wahrscheinlich eher willkürlich handelt. Auch wenn ein Drehbuch nach Prüfung durch die Zensurbehörden freigegeben wurde, passiert es, dass der Film später durchfällt und in Teilen umgeschnitten werden muss oder aber überhaupt kein Aufführungsrecht hält. Das ist ihm mehrfach passiert.
Mit dem Film „Summer Palace“ hat er sich ein fünfjähriges Berufsverbot eingehandelt. Jedoch war es ihm dieser Film wert! Der Film bezieht die Ereignisse von 1989 am Tiananmen-Platz in die Handlung ein. Das Drehbuch war bereits lange geschrieben, als er sich 2004 endlich den Ruck gab, auch den Film zu drehen, da er befürchten musste ihn sonst nie zu machen. Trotz des Berufsverbots ist es ihm – im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen – gelungen, ein Filmschaffender zu bleiben und sich – auch dank der Unterstützung auslandischer Koproduzenten über Wasser zu halten. Er erwähnt hier vor allem die Filmfördrung von Frankreich und Deutschland, beispielsweise durch den Fernsehsender arte. Auch das bescheidene Grundgehalt eines chinesischen Filmautors ermöglicht ihm und seiner Familie ein einfaches und zumindest materiell sorgenfreies Leben.
Ob die Zensur in China in Zukunft entfallen wird? Der Regisseur ist skeptisch: Das weiß ich nicht. Kann sein, kann aber auch sein, dass es schlimmer wird. Zumindest wird in Aussicht gestellt, dass die Zensur transparenter werden soll: Die Gründe einer Ablehnung müssen kommuniziert werden. Was auch immer das an Vor- oder Nachteilen mit sich bringen wird. Sein Überlebenskonzept jedenfalls ist es – und hier wendet er sich an alle Künstler, vor allem die Filmschaffenden – sich bei der Arbeit auf das Werk zu konzentrieren und nicht über die Kritik oder Zensur nachzudenken, sondern es so zu machen, wie man es sich vorgestellt hat. Die Zensur wird so oder so stattfinden. Sich damit im Vorweg zu arrangieren, würde keinem dienen. Eine, wie ich finde, sehr sympathische Haltung!
Am Ende der Veranstaltung bedanken sich die Moderatoren im Namen der Schule bei Lou Ye und seiner Frau für ihre Bereitschaft zu diesem Interview. Die Beiden ihrerseits bedanken sich für die professionelle Betreuung durch die Oberstufenschülerinnen und -schüler.
Später draußen im Foyer höre ich mich ich im Gespräch mit Freunden sagen: „Zensur gibt es nicht nur in China, sondern überall. In allen Ländern, in allen Systemen. Sie kommt nur in anderer Verkleidung daher. Das Gleiche gilt für Macht, Bestechung und Korruption. Sie sehen nur systemabhängig überall ein wenig anders aus.“
Lou Ye: IMDB-Eintrag mit kompletter Filmografie
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